Grußwort Christian Watty

Liebes Festivalpublikum,

unser Alltag wird seit drei Jahren von Coronapandemie und Klimakrise bestimmt. Und seit nunmehr fast zehn Monaten demonstriert der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine in täglichen Schreckensnachrichten die barbarische Seite des Menschen.

Zur gleichen Zeit jedoch führen uns welt­weite Bewegungen vor Augen, dass wir zuallererst soziale Wesen sind, dass wir nur durch Kooperation, Solidarität und Empathie auf unserem Planeten überleben können. Der Krisenmodus macht uns als Gesellschaft offenbar sensibel für eine ver­mehrte Auseinandersetzung mit unseren Mitmenschen, nicht nur in unserer Nach­barschaft, sondern in einem weltweiten Bewusstsein. Die Frage drängt sich auf, ob Wandel und Fortschritt trotz oder gerade wegen der vermeintlichen Aussichtslosig­keit entstehen. Themen, denen wir lange keine Beachtung geschenkt haben, stehen heute ganz oben auf der gesellschaftlichen Agenda: die Sehnsucht nach mehr Res­pekt, Diversität und Gendergerechtigkeit, der Wunsch nach einem Ende von Aus­grenzung, Diskriminierung, Ausbeutung und Rassismus. Die Menschen im globa­len Norden mit ihrem oft grenzenlosen Egoismus und vor allem wir in Europa sind aufgefordert, uns mit unserer kolo­nialen Vergangenheit und neokolonialen Gegenwart auseinanderzusetzen: mit dem langen Schatten der Unterdrückung und Dominanz, mit der Kolonisierung im Namen Gottes oder des Kapitalismus, die beide bereits Millionen Opfer gefordert haben und immer noch fordern.

Das Programm der 32. euro-scene Leipzig und die Künstler:innen von nah und fern leisten einen Beitrag zu diesen drängen­den Debatten und wollen dadurch mit dem Publikum zusammen die Uhren vor- und nicht zurückstellen: in Richtung Weltoffen­heit, gegenseitige Wertschätzung und Überwindung all dessen, was uns trennt.

In unserer Festivaleröffnung ANY ATTEMPT WILL END IN CRUSHED BODIES AND SHATTERED BONES untersucht der neue Starchoreograf Jan Martens aus Flandern mit seinen 17 Tänzer:innen zwischen 17 und 70 Jahren, wie gemeinsames Handeln und politisches Aufbegehren für mehr Demo­kratie, Freiheit und Bürger:innenrechte funktionieren können. Auslöser für sein Stück waren 2019 die Straßenproteste für Freiheit in Hongkong sowie die gleichzeitig in Europa demonstrierenden Gelbwesten, Extinction Rebellion und Wutbürger:in­nen. Die sizilianische Theaterregisseurin Emma Dante behandelt in ihrem Stück MISERICORDIA das Thema der Mutter­schaft und zeigt uns eine ergreifende Hom­mage an die Frauen und ihre Fähigkeit, zu lieben und zu kämpfen. SOUL CHAIN, das die israelische Ausnahmekünstlerin Sharon Eyal für die 17 Tänzer:innen von tanzmainz choreografiert hat, musste 2021 leider ausfallen. Nun können wir es dieses Jahr glücklicherweise nachholen.

Mit den drei Stücken THE GHOSTS ARE RETURNING, MENTIRAS APLAUDIDAS sowie TEATRO AMAZONAS legt die euro-scene Leipzig einen Fokus auf hochaktuelle außereuropäische und postkoloniale Perspektiven. In dem dazugehörigen zwei­tägigen kostenlosen Diskursprogramm THE TIME FOR DENIAL IS OVER werden diese Themen durch Filme und Beiträge von Fachleuten aus Afrika und Europa diskutiert und vertieft.

Auch UBUNTU CONNECTION, unser neues Battle-Format mit Live-Band in zwei Runden am Freitag und Samstag, sucht nach einem respektvollen Umgang mit­einander, beruhend auf Fairness, Egalität, Veränderung und Hoffnung. Mit SAVUŠUN hat Sorour Darabi eine Ode an die Ver­letzlichkeit geschaffen, die danach fragt, wie Menschen selbst über ihre Körper bestimmen können, wenn sie weder Mann noch Frau sind und noch dazu einer kulturellen Minderheit angehören. Unsere Associate Artists von der Leipziger FOR­WARD DANCE COMPANY stellen im zweiten Jahr unserer Kooperation etablierte Seh­gewohnheiten und Erwartungen an den Tanz infrage.

Es liegt in der DNA der euro-scene Leipzig, dass wir auf die Aktualität in der Ukraine reagieren. Sieben der besten ukraini­schen Zirkusakrobat:innen zeigen uns in MY LAND eine Liebeserklärung an ihre Heimat: ein Stück für die ganze Familie. Am Samstagnachmittag findet anschließend im Foyer 1 des Schauspiels Leipzig eine Diskussion mit dem Titel DANCING IN TIMES OF WAR zur derzeitigen Lage von Künst­ler:innen im Kriegsgebiet statt.

Zum Festivalabschluss in der Oper Leipzig haben wir Maguy Marin, die wichtigste Vertreterin des Tanztheaters in Frank­reich, und den Leipziger Ballettchef Mario Schröder eingeladen, einen neuen ge­meinsamen Doppelabend zu kreieren, auf den wir uns ganz besonders freuen.

Seien Sie herzlich willkommen! Lassen Sie sich überraschen und dazu verführen, mit uns einen kritisch-positiven Blick in die Zukunft zu richten.

Christian Watty & das Team der euro-scene Leipzig

Das könnte Ihnen auch gefallen